Und ich sah - oratorium op.55
Die jüngste der jüngsten Posaunen
Uraufführung
Thomas Daniel Schlees „Und ich sah“ beeindruckte in Seckau
Anerkennung
VON WILHELM SINKOVICZ
In jeder Hinsicht bemerkenswert scheint die Uraufführung von Thomas Daniel Schlees Oratorium „Und ich sah", die Sonntag in der Basilika Seckau stattfand. Zum einen ist es heutzutage nicht mehr selbstverständlich, dass ein zeitgenössischer Komponist einen bedeutenden Teil seiner Schaffenskraft in den Dienst religiöser, oft liturgisch gebundener Musik stellt. Zum ändern ist Schlee einer der wenigen schöpferischen Geister im österreichischen Musikleben, die sich den Luxus leisten, stilistisch konsistent und im besten Sinne eigenbrötlerisch zu agieren. Kann sein, dass Kenner in seinen Stücken Echos großer Vorbilder, nicht zuletzt des Lehrers Olivier Messiaen, zu vernehmen meinen. Doch sind diese Nachklänge vielfach gebrochen und stimmig in den Inspirations-Fluss des heute 48-jährigen Komponisten (und Intendanten des Carinthischen Sommers) eingebunden.
Für die Seckauer Produktion, angeregt durch Otto Kargl und dessen phänomenale Cappella Nova Graz, schuf Schlee eine tönende Vision, frei assoziiert zu den apokalyptischen Fresken, die Herbert Boeckl Anfang der fünfziger Jahre für die Engelkapelle in Seckau gemalt hat. Auch in dem musikalischen Werk werden die Themenkreise der Apokalypse behandelt, doch nicht wie in den optischen Nachtmahren und Visionen aus dem Text des Johannes auf Pathmos, sondern nach einer Textauswahl, die Schlee selbst aus Büchern des Alten und Neuen Testaments getroffen hat und die auf die eigentliche Bedeutung des Wortes Apokalypse, die da ist: Erkenntnis, verweisen.
Gordische Knoten und Engelschöre
Ausgehend vom schlichten Gesang einer Choralschola, die Schlee dann fantasievoll in die vielstimmigen Sätze seines Oratoriums einbindet, entwickeln sich neun Sätze, in denen die unterschiedlichsten Klangkombinationen akustische Gegenbilder zu den bizarren, dann wieder berührend schlichten Sprachszenen entwerfen. Ein. Streichquartett, Solotrompete und Posaune sowie die von Franz Danksagmüller virtuos geschlagene Orgel umhüllen oder kontrapunktieren den Gesang, der von Markus Volpert und besonders eindrucksvoll Johanna von der Deken solistisch in oft Schwindel erregende Höhen geführt wird. Schlees Erfindungskraft setzt simple Linien, schlingt sie zu verwirrenden Verknotungen, setzt den himmlischen Chor der Engel mit lichten Akkorden von irdischen Erlösungsbitten ab; dabei ist er wohl den ureigenen Klängen seines Lehrers Messiaen am nächsten. Ein Werk, dem - nach Christian Muthspiels meditativem einleitenden Posaunensolo - Otto Kargis Ensemble mit bewundernswerter Hingabe beigekommen ist, das im Hörer freilich dank seiner Vielgestaltigkeit die Lust auf baldiges Wiederhören weckt: Manche originellen Klangbilder verwehen in der Realität allzu flüchtig, hinterlassen jedoch schemenhaft-fesselnde Spuren im Gedächtnis, die zu erneuter Beschäftigung drängen.